Familie Cahn
Hauptstraße 24

Die von Seligman Löb Cahn (1818-1880) und Rosa, geb. Stern (1820-1902) abstammenden Mitglieder der Familie Cahn gehörten zu den langjährigen Bewohnern der hinteren Hauptstraße (früher Langgasse) im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Seligmann Löb und Rosa Cahn hatten drei Töchter und drei Söhne: Die Tochter Henriette, verheiratete Grünebaum, starb 1913. Elise, geb.1862, war in Wiesbaden mit dem Viehhändler Moritz Heymann verheiratet. Sie wurde 1942 von Frankfurt ins Vernichtungslager Treblinka deportiert und später für tot erklärt. Johanna, geb. 1856, verheiratete Oppenheim, lebte in Marburg. Sie wurde am 7.9.1942 nach Theresienstadt deportiert und starb dort am 18.9.1942.

Über den Sohn Alexander ist weiter nichts bekannt. Die Söhne Maier (geb. 30.1.1851) und Hermann (geb. 23.9.1852) gründeten Familien und lebten in der Hauptstraße in den Häusern 24 und 32. Die Familie Cahn pflegte ein gutes Verhältnis zu ihrer Nachbarschaft. Im 1. Weltkrieg schrieb Hermann Cahn 1914 Weihnachtsgrüße an den christlichen Nachbarn Gustav Hedwig, der sich zu dieser Zeit „im Felde“ befand. Auch zum Geburtstag im Februar 1915 erhielt Gustav Hedwig ein Paket, das Wurst, Butter und Zigarren beinhaltete mit den „besten Wünsche“ an die Front von Hermann Cahn und Frau. Hermann Cahn engagierte sich als Stadtrat und war Mitbegründer der Königsteiner Feuerwehr.

Hermann Cahn und seine Frau Helene Rosenthal (geb. 1864 in Klein-Krotzenburg) hatten drei Kinder: Mathilde, Albert und Hilda. Über die 1884 geborene Mathilde gibt es keine weiteren Informationen. Der Sohn Albert, geboren am 17. Februar 1888, war im 1. Weltkrieg Soldat. Nachbarin Elise Hedwig schrieb im April 1915 an ihren Mann Gustav, der als Soldat in Frankreich war, dass Albert Cahn in Russland einen Schenkelschuss erlitten habe und in Gefangenschaft geraten sei. Anfang September 1915 meldete Elise Hedwig: „Cahn Albert hat hier die Woche aus Sibirien geschrieben, nach so langer Zeit.“

Wann Albert Cahn aus dem Krieg zurückkehrte ist unklar. Wegen seiner Kriegsverletzung erhielt er bis 1942 eine Kriegsbeschädigtenrente. Die Verletzung bewahrte ihn im November 1938 davor, wie die anderen jüdischen Männer aus Königstein nach Buchenwald in sogenannte Schutzhaft genommen zu werden.

1940 wickelte Albert Cahn seinen Lederwarenhandel zwangsweise ab. Die damit verbundenen Einnahmen mussten von den Handelspartnern auf ein Sicherungskonto eingezahlt werden, über das Albert Cahn nicht frei verfügen durfte. In einem Schreiben des Oberfinanzpräsidenten in Kassel an Albert Cahn, Hauptstraße 24, wurde ihm allerdings ein monatlicher Betrag von 300 RM zugestanden.

Hermann und Helene Cahns Tochter Hilda, geboren am 1. April 1894, wurde nach dem Besuch des „Taunus-Instituts“ (Höhere Mädchenschule) Krankenschwester. Bei Kriegsausbruch 1914 arbeitete sie als Hilfsschwester in einer Wiesbadener Augenheilanstalt. Sie erhielt nach einem Jahr ein Diplom als Vollschwester. Außerdem arbeitete sie in Lazaretten in Wiesbaden, Dortmund und Berlin. Nach Kriegsende 1918 begann sie eine dreijährige Krankenpflegeausbildung im Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde in Frankfurt und erhielt 1921 ihr Diplom.

Nach dem Tod des Vaters Hermann Cahn 1929 richtete Hilda in der Hauptstraße 32 ein Erholungsheim für 25 Kinder ein, in dem auch Frankfurter Kinder den Sommer verbrachten. Manche Kinder blieben sogar zwei oder drei Jahre bei Fräulein Cahn. Das Heim erfreute sich eines guten Rufs, beschäftigte Hausangestellte und zwei Kinderpflegerinnen. Nach Angaben von Hilda Cahn entwickelte sich das Kinderheim gut, bis in der Nazi-Zeit die Schwierigkeiten immer größer wurden: „Belästigung der Kinder, Abwanderung und beständiger Druck von Seiten des Kreisarztes“. 1937 gab sie es auf. Anfang 1938 wurde das Haus Hauptstraße 32 verkauft. Albert und Hilda Cahn zogen am 1. Mai 1938 zu ihrem Onkel Maier Cahn und dessen Tochter Martha in die Hauptstraße 24.

Maier Cahn war mit Emilie, geb. Bauer (1856-1910, beerdigt auf dem Jüdischen Friedhof Falkenstein) verheiratet. Das Paar hatte drei Kinder: Sally, geb. 1882, der 1907 nach New York auswanderte, Ludwig, geb. 1893, der 1921 amerikanischer Staatsbürger wurde und Martha, geboren am 29. Mai 1894.

Martha, die ledig blieb, war Sekretärin. Gemeinsam mit ihrer Cousine Hilda plante sie die Auswanderung. Beide Frauen stellten am 23. Mai 1939 jeweils einen Antrag auf Mitnahme von Umzugsgut. Das Umzugsverzeichnis von Hilda listet Arbeitskleidung, Decken, Kinderbettbezüge, Essservice, Küchengeschirr, Spritzen, Fachliteratur und Kinderbücher auf. Im Umzugsverzeichnis von Martha finden sich sehr viele Bücher: Goethe, Hebbel, Ibsen, Platon, Hermann Hesse. Martha Cahn war offensichtlich eine belesene Frau. Bei der Devisenstelle in der Goethestraße in Frankfurt baten die Cousinen darum, „die Umzugslisten zusammen bearbeiten und genehmigen zu wollen, da die Nachschau, sowie die Verpackung und Verladung gemeinsam vorgenommen werden soll, weil wir gemeinsam Haushalt führen und das Umzugsgut in dem gleichen Hause Königstein im Taunus, Adolf Hitlerstr. 24, lagert und wir außerdem beabsichtigen, auch nach unserer Auswanderung in USA gemeinsam eine Existenz zu gründen. Die notwendigen Unbedenklichkeitsbescheinigungen, Vermögensverzeichnisse mit Sichtvermerk sind bereits vorhanden.“

Am 25. Februar 1940 meldete sich Martha Cahn nach New York ab. Die gemeinsame Auswanderung mit ihrer Cousine hatte offensichtlich nicht geklappt, denn Hildas Abmeldedatum nach New York war der 16. September 1939. Über das weitere Schicksal von Martha Cahn ist noch nichts bekannt.

Hilda Cahn wanderte über Antwerpen in die USA aus. Für die Schiffskarte zahlte sie 365 RM und ca. 50 RM für Bahnfahrkarte und Gepäck. Das Schiff der Holland-Amerika-Linie verließ Amsterdam erst mit zweiwöchiger Verspätung. Dadurch brauchte Hilda Cahn weitere 300 Dollar für den Aufenthalt in Antwerpen, da ihre Schifffahrkarte ungültig wurde und sie eine neue benötigte. Auch der Transport der Dinge, die sie mitnahm, kostete 800 RM in Deutschland und 200 Dollar in New York.

In New York arbeitete Hilda Cahn wieder als Krankenschwester. Sie starb 1974.

Von 1937 bis 1939 lebte auch die Haushälterin Irma Mendel in der Hauptstraße 24. Wahrscheinlich war sie zur Betreuung des nun hochbetagten Maier Cahn engagiert worden. 1939 zog Irma Mendel nach Mainz, 1942 wurde sie ins Ghetto nach Piaski in Polen deportiert.

Maier Cahn war von 1903 bis 1921 Kultusvorsteher der jüdischen Gemeinde in Königstein. Beruflich arbeitete er als Kaufmann. Er besaß Aktien und Grundstücke in Königstein, Schneidhain, Eschborn, Seckbach und Eppenhain. Ab Dezember 1938 konnte er gemäß der „Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens“ nicht mehr frei über seinen Besitz verfügen.

Im Februar 1939 erhielt er von der Zollfahndungsstelle Frankfurt a.M. ein Schreiben, in dem ihm ein monatlicher Betrag von 400 RM freigegeben wurde, über den er ohne besondere Genehmigung verfügen konnte. Er erhielt aber die Auflage, alle aus Grundstücksverkäufen, etc. anfallenden Vermögenswerte auf ein gesichertes Bankkonto zu überweisen.

Im November 1939 zog Maier Cahn im Alter von 88 Jahren nach Frankfurt. Vermutlich war das Haus Kronberger Str. 19, in dem er wohnte, in jüdischem Besitz, denn nach den Novemberpogromen mussten nichtjüdische Hausbesitzer mit Sanktionen rechnen, wenn sie an Juden vermieteten. Zwischen 1939 und 1945 gab es schätzungsweise bis zu 300 sogenannte „Juden- oder Ghettohäuser“ in Frankfurt, Häuser, in denen ausschließlich oder überwiegend jüdische Bewohner lebten.

Für Maier Cahn, der sein ganzes Leben in Königstein im eigenen Besitz gewohnt hatte, und nun 88-jährig sein Haus verließ, muss dies ein großer Bruch gewesen sein. Ohne die Judenverfolgung der Nazis hätte er bis zu seinem Tode zuhause leben können. So aber wurde das Haus Hauptstraße 24 im Frühjahr 1940, nach der Emigration seiner Tochter Martha, verkauft.

Laut Mitteilung seiner Schwester Elise Heymann im März 1941 starb Maier Cahn am 2. Oktober 1940 im Alter von 89 Jahren in Frankfurt.

Am 1. Mai 1940 meldete sich Albert Cahn in die Neugasse 1 um, am 1. Juni 1942 zog er in die Kirchstr. 12 zu Louise und Gertrude Gemmer. Wie auch in anderen Orten mussten die noch verbliebenen jüdischen Bewohner Königsteins immer enger zusammenrücken.

Wie viele andere hatte sich Albert Cahn um eine Auswanderung bemüht. In einem Schreiben an die Königsteiner Ortspolizeibehörde teilte er am 24. Mai 1940 mit, diese sei jedoch bisher an seiner Kriegsbeschädigung gescheitert. Albert Cahn wurde am 28. August 1942 zusammen mit Familie Heß, Clementine Mayer, Louise und Gertrude Gemmer aus Königstein abgeholt, um am 1. September von Frankfurt nach Theresienstadt deportiert zu werden. Am 23. Januar 1943 kam er nach Auschwitz. Dort verliert sich seine Spur.

 

Text: Petra Geis