Familie Gemmer
Kirchstraße
12
Louise Gemmer, geboren am 18.6.1869, war eine erfolgreiche
Geschäftsfrau in Königstein. Sie vermittelte
Grundstücksgeschäfte und war unter anderem für die Familie
Rothschild aktiv. 1903 heiratete sie den Bankbeamten
Philipp
Wilhelm Gemmer, der mit der
Heirat zum Judentum übertrat. Ein Jahr später wurde die
Tochter Gertrude geboren. Die Familie lebte in der
Kirchstraße 12.
In der Naziterminologie galten Wilhelm Gemmer und seine
Tochter Gertrude als „Geltungsjuden“. Seine christliche
Herkunft schützte ihn nicht vor den Verfolgungsmaßnahmen
der Nationalsozialisten. Am 11. November
1938, an diesem Tag wurden zahlreiche jüdische Männer
verhaftet, war Wilhelm Gemmer nicht zu Hause, stellte
sich jedoch einen Tag später der Polizei. Zusammen mit
den anderen Männern wurde er als sogenannter
„Aktionsjude“ über die Frankfurter Festhalle in das
Konzentrationslager Buchenwald gebracht, wo er mit der
Häftlings-Nummer 29321 geführt wurde. Dort war Wilhelm
Gemmer bis zum 15. Dezember 1938 inhaftiert und wurde
mit der Auflage entlassen, das Land innerhalb kürzester
Zeit zu verlassen.
Es gelang Wilhelm Gemmer mithilfe der Quäker am 25.6.1939 nach London zu fliehen. Die Quäker, auch „Gesellschaft der Freunde“ genannt, sind für ihr soziales und karitatives Engagement bekannt. Neben einem Büro in Frankfurt führten sie von 1933 bis 1939 in Falkenstein im Hotel „Frankfurter Hof“ ein Erholungsheim für Menschen, die aus Konzentrationslagern entlassen worden waren. Dort sollten diese wieder neue Kräfte sammeln. Der bekannteste unter ihnen war der spätere Regierende Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter. Außerdem unterstützten die Quäker vor allem Christen jüdischer Herkunft und sogenannte „Mischlinge“ bei der Flucht ins Ausland. Sie organisierten auch Kindertransporte aus Deutschland und richteten in Nachbarländern Kinderheime ein.
In dem Glauben, nur den Männern drohe Gefahr, ging er
zunächst ohne die Familie ins Ausland und wollte sie
später nachholen. Dies belegt sein Umzugsgutverzeichnis,
in dem er auch Gegenstände auflistet, die Frau und
Tochter betrafen. Sein Umzugsgut enthielt unter anderem
auch zwei Bilder der Villa Rothschild sowie sein
Ehrenkreuz für die Kriegsteilnahme im Ersten Weltkrieg.
Der Kriegsbeginn im September 1939 verhinderte die erhoffte Auswanderung der beiden Frauen aus Deutschland. Wilhelm Gemmer gelang es nicht mehr, Frau und Tochter nachzuholen. Louise Gemmer und die Tochter Gertrude wurden am 1.9.1942 nach Theresienstadt deportiert. Gertrude Gemmer starb dort am 11.9.1942, ihre Tochter Gertrude wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Das gesamte in Königstein verbliebene Eigentum von Gertrude und Louise Gemmer wurde vom „Reich eingezogen“ bzw. versteigert. Zahlreiche weitere in Königstein geborene Mitglieder der Familie Henlein wurden von Frankfurt aus deportiert und ermordet. Einige der Namen sind an der Gedenkwand am Frankfurter Börneplatz zu finden.
Wilhelm Gemmer lebte vom 26. Juni 1939 bis 18. Dezember 1947 in Cheltenham in England in ärmlichen Verhältnissen und schlug sich als Schuhputzer und Hotelpage durch. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entschloss er sich 1947/48 zur Rückkehr nach Königstein. Zermürbende Entschädigungsverhandlungen erwarteten Wilhelm Gemmer.
Bei seiner Rückkehr nach Königstein war sein Haus in der Kirchstraße von einem Königsteiner bewohnt, der zu den führenden Nazis der Stadt gehört hatte. Nach dessen Auszug konnte Gemmer wieder in seinem Haus wohnen. Im Jahr 1952 zog die heutige Hauseigentümerin Elisabeth Kurz als junge Frau gemeinsam mit ihrer Mutter in zwei Zimmer des Hauses Kirchstraße 12 ein. Die Mutter führte für Wilhelm Gemmer den Haushalt. Zehn Jahre später verkaufte er das Haus an die Familie von Elisabeth Kurz und lebte hier weiter bis zu seinem Tod im Jahr 1971. Für ihre beiden Kinder war Wilhelm Gemmer ein geliebter "Adoptiv-Opa". Gemmer wurde auf dem jüdischen Friedhof in Falkenstein beigesetzt, es war die letzte jüdische Beerdigung dort. Sein Grabstein erinnert auch an die Ermordung von Frau und Tochter.
Zeitlebens hat Wilhelm Gemmer seiner ermordeten
Angehörigen gedacht. In Bücher, die er verschenkte,
stempelte er einen Gedenktext an Frau und Tochter, der
mit den Worten "Zum treuen Gedenken an meine liebe Frau"
begann. Dieser Text war eigentlich der erste
Stolperstein, ein "Stolperstein auf Papier", ist
Elisabeth Kurz überzeugt.
Text: Angelika Rieber